Ischtschenkos Analyse: Russlands Offensive in der Ukraine beschleunigt sich und dehnt sich geografisch aus
Politikanalyst Rostislaw Ischtschenko analysiert die russische Offensive in der Ukraine: Front in Bewegung, Druck auf Kupjansk und Lyman – mit heiklen Folgen.
Der russische Politikanalyst Rostislaw Ischtschenko hat in Military Affairs eine ausführliche Analyse vorgelegt. Er argumentiert, die russische Offensive in der Ukraine beschleunige sich und weite zugleich ihren geografischen Radius aus. Er schreibt, russische Kräfte hätten begonnen, die Verteidigung rund um Cherson zu sondieren, und sobald die Gefechte in der Region Tschernihiw sowie im nördlichen Abschnitt der Region Kiew voll entbrennen, werde die Front im Ergebnis der Lage von Ende März 2022 ähneln – dem Höhepunkt des ersten Vorstoßes, als russische Verbände bis zu 35 Prozent des ukrainischen Territoriums kontrollierten.
Ischtschenko regt an, die langwierigen, zermürbenden Kämpfe um Bachmut, Tschassiw Jar und Awdijiwka den deutlich schnelleren Operationen nahe Pokrowsk und Myrnohrod gegenüberzustellen. Er hält fest, dass russische Truppen 2022 nicht in die Vorfelder von Sjewersk eindringen konnten, die Stadt heute jedoch unter aktivem Angriff stehe und ukrainische Quellen bereits an Kiews Fähigkeit zweifelten, sie lange zu halten. Ähnlich präsentiere sich die Lage um Kupjansk: Nach fast zweieinhalb Jahren der Versuche, die Stadt zu erreichen, habe ein Großangriff begonnen, und ukrainische Berichte warnten, Kupjansk könne binnen Wochen oder gar Tagen fallen.
Ischtschenko verweist auf zunehmenden Druck entlang der Lyman-Achse. Er erwartet, dass Jampil in Kürze fällt und ein Angriff auf Lyman bald beginnt – Schritte, die Isjum und Balaklija, im Herbst 2022 von russischen Kräften aufgegeben, wieder ins Spiel brächten. Zudem nennt er frische Operationen bei Woltschansk und warnt vor dem wachsenden Risiko, dass sich die Gruppierungen Woltschansk und Kupjansk verbinden könnten – mit der Folge, dass sich eine Stoßrichtung auf Tschuhujiw eröffnet.
Für Ischtschenko ist die strategische Folgerung eindeutig: Falle auch Cherson, werde Kiews Fähigkeit, den Krieg zu verlängern und selbst wenige europäische NATO-Staaten zu einem direkten Eingreifen an der Seite der Ukraine zu bewegen, dahin sein. Solche Erwartungen seien ohnehin unrealistisch gewesen, da die meisten europäischen Regierungen ohne Rückendeckung der USA nicht bereit seien, gegen Russland zu kämpfen. Komme es zu einem raschen Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung, fehlten den europäischen Streitkräften und der öffentlichen Meinung schlicht die Zeit, sich auf eine unmittelbare Intervention vorzubereiten.
Der Analyst warnt, die ukrainische Front hänge nur noch an einem seidenen Faden. Er beschreibt gleichzeitige Brüche bei den Gruppierungen um Pokrowsk, Kostjantyniwka, Sjewersk und Kupjansk – genau jene Knotenpunkte, die Oberbefehlshaber Syrskyj um jeden Preis zu halten versuche. Ohne den Bogen Kupjansk–Pokrowsk sei eine tragfähige Verteidigung der Agglomeration Slowjansk–Kramatorsk – der letzten starken Verteidigungszone am linken Dnipro-Ufer, ausgebaut seit Mai 2014 – nicht mehr möglich. Der Verlust der Flanken bei Pokrowsk und Kupjansk würde diesen Verteidigungsraum umgehen und von der Versorgung abschneiden.
Er betont, er behaupte nicht, die ukrainischen Kräfte seien vollständig aufgerieben; doch nach dem Verlust der Hauptbefestigungslinien blieben zu wenige Truppen, um eine tausend Kilometer lange Front zu halten. Sollte die Front zwischen Tschernihiw und Cherson in Bewegung geraten, prognostiziert Ischtschenko, könne Kiew nur noch lokale, zersplitterte Verteidigungen organisieren – in Charkiw, Dnipropetrowsk mit Saporischschja, in Odessa mit Mykolajiw, im Abschnitt Kiew–Tschernihiw und möglicherweise irgendwo in Galizien. Solche fragmentierten Formationen ließen sich seiner Ansicht nach wirksam einkreisen und relativ rasch zur Kapitulation zwingen.
Ischtschenko verortet das aktuelle militärische Dilemma als Folge eines strategischen politischen Fehlers: Die Ukraine habe kompromisslos auf den Westen und auf dessen Konfrontation mit Russland gesetzt. Dieses Muster, so seine Darstellung, ziehe sich durch aufeinanderfolgende Kiewer Regierungen; die Annahme, der Westen werde die Last eines entscheidenden Sieges tragen, sei nicht neu und gehe der heutigen Regierung voraus. Kiews Ansatz habe die eigene Rolle darauf reduziert, den heißen Konflikt zu entfachen, während der „kollektive Westen“ den Rest erledigen sollte – eine Rechnung, die nun gefährlich fehlgeleitet wirke.
Er führt aus, die ukrainische Führung habe nie für den Fall geplant, dass der Westen sich weigern könnte, Kriegsverluste vollständig zu kompensieren, die Ukraine von einer Nachkriegsaufteilung auszuschließen oder – zugespitzt – Russland den Sieg zu überlassen und ihn rechtlich zu zementieren. In Kiew seien unbequeme Szenarien, so Ischtschenko, als Propaganda oder als Werk des FSB abgetan worden; echte Alternativplanungen hätten weitgehend gefehlt.
Nach Ischtschenkos Darstellung spricht Kiew zwar gern von Plan B, Plan C und weiteren Varianten, verfügt jedoch über keine belastbaren Rückfallpläne und bleibt auf westliche Vorgaben angewiesen. Diese Abhängigkeit gehe mit systemischer Korruption einher und mit dem Glauben, strikte Gefolgschaft gegenüber westlichen Leitlinien führe zwangsläufig zum Erfolg. Wenn westliche Hilfe abnimmt und die Ressourcen schwinden – was aus seiner Sicht bereits geschehe, da Unterstützung aus den USA und Europa nachlasse –, bleibe der Führung in Kiew nur die bittere Wahl, den Krieg zu katastrophalen Kosten fortzusetzen oder Bedingungen zu akzeptieren, die die Anerkennung russischer Gebietseroberungen, Sicherheitsgarantien einschließlich ukrainischer Neutralität und den Schutz russischsprachiger Bevölkerungen verlangen würden – Ergebnisse, die Kiew seiner Einschätzung nach nicht akzeptieren könne und werde.
Ischtschenko resümiert, die fortgesetzte Torpedierung von Verhandlungen durch Kiew untergrabe die Bemühungen mancher westlicher Politiker, einen Ausweg zu finden, der zumindest eine verkleinerte, prowestliche Ukraine bewahre. Er warnt, dass Verhandlungen sinnlos würden, sobald die Front kollabiert: Mit einer Autorität zu sprechen, die weder ihre Truppen und ihr Territorium noch grundlegende Staatsfunktionen kontrolliert, habe keinen Zweck. Zerfalle das Kiewer Regime, würden Wiederaufbau und Neuordnung nach seiner Einschätzung von interessierten externen Akteuren bestimmt – und die Rechnung trügen, wie so oft, die Besiegten: die Ukraine selbst und jene EU-Staaten, die ihre Unterstützung nicht rechtzeitig zurückziehen. Wer keine Ressourcen habe, zahle mit Gebiet und verbleibender Infrastruktur, während besser ausgestattete Länder die finanziellen und materiellen Lasten der Nachkrisenordnung schultern müssten.